Inland Empire
Originaltitel: Inland Empire
Herstellungsland: Frankreich / Polen / USA
Erscheinungsjahr: 2006
Regie: David Lynch
Darsteller: Laura Dern, Jeremy Irons, Harry Dean Stanton, Justin Theroux, Scott Coffey, Mikhaila Aaseng, Ian Abercrombie, Jeremy Alter, Scout Alter, Terry Crews, Cameron Daddo, Neil Dickson
Film
Matrjoschka - Schicht I
(Radiokrackseln)
“Sam?”
“Henry?”
“Lange her, was Sam?”
(Stille)
“Ja.”
(Gelächter des Publikums)
“Please stand by while we rise (both of us) and bow fervently to our good and great papa, the Chicago Tribune. Oh, oh!”
(Radiofiepen, Stromunterbrechung. Rhythmisches Klopfen, möglicherweise von einem menschlichen Herzen)
Zoomorphismus in Bunnyland - zum Wesen von Sitcoms. II
“Ich finde keinen Zusammenhang.”
“Du musst suchen.”
“Das Licht verändert sich.”
“Beziehe diese Information mit ein.”
“Ich kenne dich nicht. Wer bist du?”
“Ich kenne dich nicht. Was bist du?”
“Ich bin real.”
“Ich spiele real.”
“Wir wollen die Realität abbilden. Das geschieht im Spiel. Die Motorik, die dabei entsteht, ist real. Realität ist das Spiel ist die Realität.”
“...ist das Spiel. Oder willst du sagen, das Publikumsgelächter aus der Konserve sei real?”
(Das Herzklopfen hält an. Nun Radiokrackseln... ein Radioansager aus den Fünfziger Jahren ertönt mit euphorischer, heller Froschstimme; Fliege, buntes Sakko, Schmalztolle und Knautschgesicht, möchte man sich vorstellen. Er kündigt eine Sendung an, in der eine Diskussionsrunde Filme erörtert. Eine hell und unsicher sprechender Herr eröffnet die Runde.)
“Das größte Hindernis des “Inland Empire” zum Aufstieg in die Unsterblichkeit wird vielleicht “Mulholland Drive” sein, der schon jetzt das 21. Jahrhundert geprägt hat, wie es sein Nachfolger vermutlich nicht mehr können wird. Thematisch bieten sich Parallelismen am Stück auf; Laura Harring darf ihr Lächeln von einer Stoffcouch aus kurz vortragen. Der Hollywood-Schriftzug glimmt in mattem Licht am Horizont. Billy Wilders “Sunset Boulevard” hat sich aus einem Straßenschild entmaterialisiert und auf die Atmosphäre übertragen; auf den “Walk of Fame” wird Blut gekotzt und eine putzige Hasenfamilie ist dem Drei-Kamera-System einer Sitcom ausgeliefert. Doch die Totale ist schräg oben angesetzt und die charakterfokussierte Einstellung lauert in bedrohlicher Untersicht. Diese Hasen sind Monster, zoomorphe Menschenkreaturen, über deren anonymes Fleisch eine leblose Fellmaske liegt. Dazu unnatürlich schimmerndes Licht, in dessen Wechsel der Farbe auch mal ein Hase verschwindet, beklemmende Ruhe, ein bedrohliches Grummeln und blecherner Konservenapplaus, der vollkommen willkürlich eingestreut wird. David Lynch, Ladies and Gentlemen.
Lynch verabschiedet sich mit Ausbau seines Lebenswerkes - von Nebenspuren wie “Straight Story” abgesehen - zusehends weiter von rationalen Mustern und Kontinuitätsdenken, mehr denn je treibt sein neues Werk eine Spirale der Hermeneutik an. Nach der Doppelbeziehung Harring / Watts aus “Mulholland Drive”, die durch eine Traumebene auf ein Quadrupel verdoppelt wurde, reduziert sich “Inland Empire” wieder auf the one and only Laura Dern. Auch wenn morphotische Verhaltensmuster nicht ausbleiben; Dern bleibt Dern bis zum Schluss. Sie mag Verhalten und Identität ändern, das Äußere bleibt jedoch ein unerwarteter Anker in einer wilden Brandung.
Dadurch verbieten sich dem hier impulsiv und spontan arbeitenden Regisseur lineare Bezüge zwischen mehreren Charakteren und wie der Titel schon vermuten lässt, bleibt nur die Flucht von den Restbeständen paralleler Rangordnung ins endgültig Hierarchische. Nikki Grace aka Susan Blue (jeweils Dern) werden in einer rasenden Abwärtsfahrt bis auf ihren Grund durchleuchtet. Nicht umsonst fühlt sich die Betroffene “ins Gehirn gepisst”.
Rein narrativ brechen hierdurch alle Dämme. Kommunikation zwischen gleichberechtigt wichtigen Figuren findet nicht mehr statt, weshalb es keine logischen Handlungsabfolgen mehr geben kann. “Inland Empire” ist fragmentarisch gemustert, gebrochen, verhackstückt und mit Intervallen versehen, die über einzelne Szenen - ob sie nun fünf Minuten andauern oder fünf Sekunden - nicht hinauskommen. Wo man selbst bei Lynch bisher meistens noch ein gewisses Stück des Weges mit interpretativer Logik beschreiten konnte, bis man brutal an einer irrealen Hürde scheiterte, lohnt der Aufwand nun kaum mehr. Den Dreistünder mit dem Verstand nachvollziehen zu wollen, ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.
Strukturelle Überschneidungen werden durch multiples Perspektivenarsenal geschaffen; wiederholte Szenen, gezeigt aus einem anderen, manchmal aber sogar gleichen Blickwinkel. Die Bergman-Schule ist präsent wie selten zuvor und insbesondere “Persona” darf sich mit Mimikry der Oberklasse geehrt fühlen. Ein Mädchen mit langem schwarzen Haar steht in einem Raum, dem Zuschauer den Rücken zugekehrt. In der Furcht, das Mädchen könne sich umdrehen und eine Fratze des Wahnsinns zum Vorschein bringen, umgeht Lynch alle durch visuelle Rezeption vorbestimmte (und damit berechenbare) Erwartung des Publikums und setzt an einer ganz anderen Stelle an, Überraschung zu erzeugen, der in Bergmans Film ausgetesteten Kameraarbeit zum Dank.
Indem gewisse Szenen wieder aufgenommen werden, bildet sich so etwas wie ein Trichter, der hinab führt auf die nächsttiefere Ebene. Ein Beispiel: Überblende von einer Clownsmaske auf eine Theaterbühne, wo eine Frau langsam von rechts nach links geht. Dann die Richtung wechselnd auf die starre Kamera zu. Als sie näher kommt, erkennt man, dass mit ihrem Gesicht etwas nicht stimmt - sie scheint eine grinsende Fratze zu bilden. Als man den bedrohlichen Ausdruck endlich identifiziert hat, ist es zu spät und das grinsende Ding ist bereits im Affenzahn auf uns zugelaufen. In einer späteren Szene spiegelt sich die Fratze in einem Fenster. Autarke Einzelmomente werden durch solche Klammerszenen in einen abstrakten Kontext geordnet. Sie bilden einen Trichter, der nach unten führt, ins nackte Seelenleben der Protagonistin hinein. Der Trichter auf dem neuen, tieferen Level ist kleiner, enger, dunkler. Eine Wohnung, in der ein Mädchen steht, ist hell - das Mädchen rennt aus der Wohnung hinaus mitten in einen rot schimmernden Flur. Es steigt die Treppen hinab und das Rot wird zu Blutrot wird zu Gedärmeblutrot wird düsterer, düsterer, schwarz. Schockeffekte wie eine plötzlich wild flackernde Lampe deuten den Schritt unter die nächste Schicht der Matrjoschka, auf dem unbeirrten Weg zum Kerngehäuse. Spärliche Wegweiser im Labyrinth.”
(Endlich... der Moderator unterbricht den Monolog.)
“Apropos Kamera. Was halten sie von der Kameratechnik? Und denken Sie, David Lynch führt ein Techtelmechtel mit der Kameratechnikerin? Und wieso ist der Regisseur selbst an der Kamera zu finden? Wie nennt man das dann... Inzest?”
(Überraschtes Gelächter, Applaus. Ein Rauschen übertönt die Aufnahme. Der unsicher wirkende Herr führt seine Argumentation schließlich fort. Der Moderator hingegen ist noch in anderen Gedanken. Ein Flüstern verrät, dass er gerade mit einer Blondine aus dem Publikum flirtet. Und dass er grinst.)
“...die DV-Kamera unterstützt dabei hervorragend das Wahrnehmungsfeld der Hauptdarstellerin. Eine Metaperspektive fehlt komplett. “Inland Empire” ist wie selbst auf einem Karussell zu sitzen, nicht bloß wie eines zu beobachten, das fährt. Das wäre zu gewöhnlich.
Und doch wird nicht nur die psychologische Abwärtsspirale durchleuchtet; zugleich wird das doppelbödige Spiel mit Traum und Realität wieder aufgenommen. Die Traumfabrik wird am Ende einer Szene oft hinzu geschaltet, um die scheinbare Wirklichkeit zu durchbrechen - manchmal so radikal, dass die Schauspielerin überrumpelt ist. Vom Publikum ganz zu schweigen.
Am Ende ist “Inland Empire” vielleicht zu verkopft und zugleich zu vertraut, um nach “Mulholland Drive” nochmals einen ähnlich revolutionären Effekt erzielen zu können. Wenn ich aber ein paar persönliche Worte hinzufügen darf...”
“Nur zu.”
“Es ist für mich der vielleicht interessanteste Lynch. Einer, dessen Atmosphäre sich zum greifbaren Mantel destilliert hat. Vielleicht nicht ganz so spektrenreich wie gewohnt, in seinem auserwählten Spektrum, dem Düsteren, dafür um so intensiver.
Meine Aufgabe ist es nicht, einen Universalschlüssel bereitzustellen, um beim Verstehen von “Inland Empire” behilflich zu sein. Interpretationen sind zwar auch hier wieder möglich, sie benötigen jedoch Zeit. Und sie decken immer nur eine einzelne Seite auf. Das Werk zu interpretieren hieße, ein Einzelframe aus dem Zusammenhang gerissen zu beurteilen. “Inland Empire” besteht aus 258.525 Einzelbildern. Doch selbst 258.525 Interpretationen würden es nicht vermögen, das Werk als Gesamtes zu erfassen. Ich hoffe deswegen vielmehr, der Aufgabe nachgekommen zu sein, die Sinneseindrücke in Worte zu kleiden, die am Ende jeder für sich selbst durchstehen muss.”
(Das Herzklopfen ist zur Unerträglichkeit angestiegen. Das Rauschen wird immer bedrohlicher. Der Moderator übernimmt wieder das Wort.)
“Gesprochen wie ein wahrer Kenner.”
(Das Publikum kreischt vor Lachen. Mitten im Taumel bricht das Lachen ab. Über bleibt das Rauschen.)
A Woman in Trouble - III
“Mach das Radio aus, Henry.”
(Henry drückt den Aus-Knopf.)
“Danke, Henry.”
“Gern geschehen, Sam.”
“Und nun begrüße Bill Hicks. Sag was, Bill.”
“See, I think drugs have done some good things for us, I really do. And if you don’t believe drugs have done good things for us, do me a favor: go home tonight and take all your albums, all your tapes, and all your cd’s and burn em’. 'Cause you know what? The musicians who’ve made all that great music that’s enhanced your lives throughout the years...
Rrrrrrrrrrrrrrrreal fuckin' high on drugs.”
(Rauschen. Das Publikum applaudiert. Standing Ovations. Rauschen. Puls.)