Das Schweigen (Ingmar Bergman Edition)
Originaltitel: Tystnaden
Herstellungsland: Schweden
Erscheinungsjahr: 1963
Regie: Ingmar Bergman
Darsteller: Ingrid Thulin, Gunnel Lindblom, Birger Malmsten, Håkan Jahnberg, Jörgen Lindström, Lissi Alandh, Karl-Arne Bergman, Leif Forstenberg, Eduardo Gutiérrez, Eskil Kalling, Birger Lensander, Kristina Olausson
Technische Daten
Vertrieb: Arthaus
Regionalcode: 2
Laufzeit: 91:19 Min.
Bildformat: 1,33:1
Sprachen: DD 1.0 Mono Deutsch, Schwedisch
Untertitel: Deutsch
Freigabe: FSK 16
Verpackung: Slim Keep Case
Film
Es schien zunächst so, als sei der erste Satz nach gut acht Minuten gefallen. Ein perlokutionärer Akt, indem etwas gesagt wird und etwas anderes damit gemeint wird. Bei einem zweiten Durchlauf fiel gleich auf, dass mitnichten erst nach acht Minuten gesprochen wird. Schon von der ersten Minute an fallen immer wieder einzelne, kurze Sätze, oft nicht mehr als drei Wörter auf einmal. Stets beobachtende Fragestellungen des kleinen Johan, beantwortet durch die mutmaßliche Mutter des Jungen, die einfach nur kurzfristig dessen Neugierde stillen will, um wieder in Ruhe ins Leere zu starren.
Eine deutsche Synchronisation, die zynischerweise überhaupt keine Existenzberechtigung besitzt. Die Dialoge nehmen einen derart geringen, viel wichtiger aber noch: bedeutungslosen Platz ein, dass man oft sogar vergisst, welcher Sprache man zuhört.
“Das Schweigen” ist die Analyse einer soziologischen Triade, unbestimmt definiert durch eine Mutter (Gunnel Lindblom als Anna), deren Sohn (Jörgen Lindström als Johan) und deren Schwester (Ingrid Thulin als Ester) - ohne dass diese genetische Zuordnung jemals verifiziert werden würde. Ingmar Bergman lässt keine ergebnisverfremdenden Umwelteinflüsse zu, er verfrachtet die drei Menschen in ein totales Isotop. Das Hotel ist alt, riesig und fast unbewohnt; der verwirrte Kellner und die Liliputanertruppe sind surreal, entfremdet von der Wirklichkeit, zählen nicht als Kontakt nach außen. Nicht einmal der Blick aus dem Fenster birgt eine natürliche Distanz, die zeigen würde, wo die Isolation beginnt und wo sie aufhört, oder wie man sie vielleicht durchbrechen könnte. Schaut Ester aus dem Fenster, sieht sie einen Panzer, der mitten in der Nacht durch die menschenleere Straße kreuzt und dabei Pausen einlegt, als gälte es, sich neu zu orientieren. Wir sind mit Ester, Anna und Johan allein und die Geschichte wird über ihre schweigenden Gesichter erzählt, gnadenlos eingefangen in jeder noch so privaten Situation.
Dynamik lässt Bergman dadurch entstehen, dass Ester wesentlich stärker distanziert ist als ihre beiden Begleiter. Während sie alle miteinander im Geiste gleichermaßen unfrei sind - die Geschwister aufgrund des Lebens, das sie gelebt haben, der Junge aufgrund des Lebens, das er noch nicht gelebt hat - ist Ester durch ihre Krankheit zudem noch physisch eingeschränkt. An ihr Bett gefesselt, in ihrem Zimmer gefangen. Ist der Junge immerhin noch in der Lage, das einsame Hotel zu erkunden und bastelt sich dank seiner Fantasie ein Wunderland wie Alice, gelingt es Anna sogar, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Es wird nicht gezeigt, wie; sie hat plötzlich einfach die Barriere nach draußen durchbrochen und ist unter Menschen. In der letzten Reihe eines Kinos hat sie ein bizarres Erlebnis, wird Zeuge eines sexuellen Akts, der nun auch endlich in ihr ausbricht, zuvor angedeutet durch partielle Nacktheit im Hotelzimmer beim Baden und im Bett. Die Reinkarnation ihrer neu gelebten Sexualität wird im folgenden als Waffe verwendet, um sich von Ester zu distanzieren; ein dankbares Opfer, das sowieso schon am Boden liegt.
Das Schweigen der Charaktere lässt uns teilhaben an ihrem Innenleben. Die Kunst der Sprache wird fast komplett ausgelassen, um dem an Dialogsemantik gewöhnten Zuschauer die Augen zu öffnen für die Ursache der Worthülsen: das Innenleben der Menschen. Wie kein anderer Regisseur stellt Bergman den Menschen als hochkomplexes Wesen dar, dessen emotionale Stabilität empfindlichst von äußeren Einflüssen mitbestimmt ist, die auch durch die soziale Umwelt, also unsereins, geprägt wird. Insbesondere das facettenreiche Spiel Ingrid Thulins falsifiziert das cineastische Bild vom durch logische Impulse angetriebenen Menschen, der sich den Wünschen des Drehbuchautoren und den Rahmenbedingungen seines Plots unterwirft. Die Figur der Ester kann im vorliegenden Rahmen eine fürsorgliche Ersatzmutter sein (oder möglicherweise auch die einstmals entmachtete richtige Mutter), im nächsten Moment jedoch ein missgünstiger Succubus, den Kopf verdrehend und die Zähne fletschend. Ursache sind neben den physischen Faktoren, der Tatsache, dass sie an ihr Zimmer gebunden ist, fast immer die Handlungsmuster der Anna, die ihr Verhalten wiederum im Unterbewusstsein vom Verhalten ihrer Schwester abhängig macht. Eine destruktive Symbiose führt in einen Teufelskreis.
Die gegenseitige Fokussierung aufeinander wirkt sich wiederum auf den kleinen Johan aus. “Man kann nicht nicht kommunizieren”, heißt es beim Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick. Mutter und Sohn nehmen sich gegenseitig wahr, das sagen ihre Gesichter überdeutlich aus; doch die Vernachlässigung des Sohnes muss ihn zu dem Schluss führen, ignoriert zu werden. Der Kellner, der nur wirres Zeug spricht, und die Kleinwüchsigen, die nur Unsinn im Kopf haben, sind der letzte Rettungsanker für Johan, der hier die Rückkopplung findet, die er bei den Menschen, zu denen er gehört, nicht bekommt.
“Das Schweigen” ist die tragische Geschichte von Missgunst und falschen Schlüssen, ausgelöst durch fehlenden Diskurs, was veranschaulicht, wie notwendig die offene Kommunikation für ein gesundes soziales Gefüge ist. Dass sich Ester und Anna im Grunde gegenseitig durchschauen, ist belanglos, solange das Gegenüber nicht direkt mit dem Wahrgenommenen konfrontiert wird. Als Ester, die Gebildete der beiden Schwestern, endlich die Wahrheit ausspricht, ist es längst zu spät. Ingmar Bergman gelingt es, das Handeln seiner Figuren als weitgehend irrationale Kette von Schlussfolgerungen zu entlarven, die sich im Ergebnis keineswegs immer mit dem deckt, was in der jeweiligen Situation immer “das Beste” für alle Beteiligten wäre. Damit gelingt ihm ein verblüffend exaktes Portrait vom Wesen des Menschen - eingefangen fast gänzlich über die Mimik ihrer Gesichter. Ein Symptom für das Innenleben, das nicht lügen kann, wenn man einmal gelernt hat, darin zu lesen.