Dumbo
Originaltitel: Dumbo
Produktionsland: USA
Erscheinungsjahr: 1941
Regie: Ben Sharpsteen
Was macht einen Film groß?
Ist es sein Sujet, das möglichst bedeutend und universell sein muss? Eine majestätische Laufzeit, die eine epochale Erzählung ermöglicht? Liegt die Größe eines Filmes möglicherweise in seinen Details oder darin, dass eine Idee mit größter Sorgfalt bestmöglich konzipiert und realisiert wird? Oder misst man sie gar am kommerziellen Erfolg?
“Dumbo” ist ein kurzer Film, ungewöhnlich kurz für einen vollwertigen Spielfilm, wird die volle Stunde doch gerade mal um wenige Minuten überschritten. Es ist ein ungewolltes Kind gewesen, von dessen Geburt Walt Disney mit Müh und Not überredet werden musste. Vom Filmverleih ganz zu schweigen; RKO Radio Pictures stieß sich an der kurzen Spieldauer und regte an, entweder die Laufzeit zu verlängern oder gleich aufs Kurzfilmformat umzusteigen.
Gerade im Schatten der 1940 veröffentlichten großen Brüder “Pinocchio”, dessen Produktionsumstände bereits wesentlich aufwendiger waren, und insbesondere des pompösen Musicals “Fantasia”, wirkt “Dumbo” in seiner Aufmachung beinahe schäbig. Die konventionellen Wasserfarbenhintergründe, sonst nur beim Disney-Spielfilmdebüt “Schneewittchen und die sieben Zwerge” (1937) verwendet, wurden ein allerletztes Mal eingesetzt. Insbesondere die bunten Zirkusszenen wirken sehr simpel, um nicht zu sagen reduziert. Horizonte sind oft nicht mehr als Farbkleckse, Schattierungseffekte bleiben nicht selten aus, die Tiere des Zirkus werden meist nur an jenen Stellen animiert, an denen eine Bewegung unabkömmlich ist, schön zu sehen bei den schlafenden Tigern, deren Bäuche sich nur bewegen, während die Gesichter regungslos bleiben. Nach den kommerziellen Flops des teuren Vorjahres sollten die Produktionskosten niedrig bleiben. Man könnte sagen, der vierte Disney-Spielfilm war nicht mehr als ein geduldetes Nebenprodukt, auf dessen Fertigstellung keinerlei Scheinwerfer gerichtet waren.
Dies ist die Ausgangssituation für einen der größten, was mich angeht, den größten Film, den die Disney-Schmiede jemals hervorgebracht hat.
Was bei “Dumbo” nämlich dankenswerterweise fehlt, ist das Gefühl, einem Produkt beizuwohnen, das von einem Großkonzern gezielt und in mutmaßlich erster Linie kommerzieller Absicht vorangetrieben wurde. Die Umstände der Produktion verkörpern - so scheint es - wider Willen die gleichen allegorischen Eigenschaften, die auch der Film selbst inhaltlich mitträgt. Nicht nur ist der Elefant mit den riesigen Segelohren die Identifikationsfigur für das aufgrund vermeintlicher körperlicher Mängel ausgestoßene Individuum... ebenso macht es den Anschein, als sei das Filmprojekt an sich genauso ein verstoßenes oder wenigstens vernachlässigtes Objekt. Nicht umsonst karikieren sich die Animatoren in zwei Szenen selbst als Handwerker, ergo als Anhänger der einfachen Arbeiterschaft: einmal, als bei Nacht, Blitz und Donner die Zelte aufgeschlagen werden (“
we don’t know when we get our pay, and when we do, we throw our pay away... [...] we get our pay, when children say with happy hearts: it’s circus day today”), einmal als Zirkusclowns kurz nach dem großen Erfolg mit der Feuerwehr-Nummer (“
Oh, we’re gonna hit the big boss for a raise, oh we’re gonna get more money ‘cause we know that we’re funny...”). Die Inhalte dieser gesungenen Zeilen lassen erahnen, dass wir es mit einem Film zu tun haben, der mit einer gewissen Skepsis gegenüber der berühmten “hand that feeds” (in Form von Disney), zugleich aber der Liebe zur Kunst und der Verbundenheit zum Zuschauer wegen entstanden ist.
Der Umstand, dass der Film ähnlich “auf sich selbst gestellt” daherkommt wie seine eigene Hauptfigur, macht ihn ehrlich. Aussage und Struktur sind dabei sehr einfach gehalten. Die meisten von Disney bewusst geförderten, so genannten “Meisterwerke” verfolgen oft gezielt eine bestimmte Moral. Das macht die Werke zwar niemals wirklich komplex, es handelt sich nun mal primär um Kinderfilme, aber eben immer zielstrebend. “Dumbo” geht instinktiver, ungeplanter vor, was eben eine gewisse Art von “Unschuld” ausstrahlt. Wenngleich manche gesellschaftliche Parabel etwas tiefer im Subtext versteckt ist, sind die gröbsten Karikaturen doch für Jedermann verständlich. Nehmen wir etwa den hässlichen Jungen, der Dumbo seiner Ohren wegen hänselt, selbst aber nicht nur ebenfalls riesige Ohren hat, sondern auch noch einen unschönen Überbiss. Das sind Dinge, die sich nicht so anfühlen, als wären sie bis ins Detail durchkomponiert worden. Zumindest sagt mir meine romantische Vorstellung, dass sie direkt aus dem Herzen von Menschen kommen, die noch dazu in der Lage sind, sich in ihre eigenen Figuren einfühlen zu können.
Dabei werden “Dumbo” gerne erzählerische Schwächen vorgeworfen, die genau aus dieser Unschuld und dramaturgischen Freiheit resultieren. Tatsächlich wird in der kurzen Zeit nicht unbedingt eine durchkomponierte Dramaturgie geboten, ganz im Gegenteil. Mutet man uns gleich zu Beginn unerträglich traurige Szenen mit der Elefantenmutter zu, die als Einzige von allen Tieren vom Storch kein Freudenbündel erhält, angereichert gar mit herzzerreißenden animatorischen Details (der letzte hoffnungsvolle Blick in den Himmel am nächsten Tag, kurz bevor der Zug losfährt), so wird dieses erregende Moment schon wenige Minuten später ohne Not aufgelöst, als der Storch verspätet doch noch dazu kommt, sein Paket abzuliefern. Augenscheinlich völlig grundlos erscheint diese Etappe, doch tatsächlich baut sie in der Elefantenmutter neben Dumbo die zweite wichtige Identifikationsfigur für den Zuschauer auf, da beide Tiere unterschiedliche soziale Positionen ausfüllen, die allgemeingültig quasi auf jeden Menschen anwendbar sind - als soziales Wesen wird sich jeder Mensch von seiner Umwelt mal verstoßen fühlen, aber auch in die Situation kommen, sich um ein anderes Lebewesen zu sorgen. Übrigens sind Dumbo und seine Mutter - letztere von einem Satz abgesehen - die einzigen Charaktere, die nicht sprechen. Die Dialoge in “Dumbo” stellen ohnehin in erster Linie gehaltloses Geschwafel dar (vgl. Elefantenherde und Rabenschar, aber auch den bürokratischen Nonsens des Storches, der das Paket abliefert, oder die schemenhaft gezeichneten menschlichen Charaktere, deren Aussagen sich in prahlerischen und rücksichtslosen Superlativen erschöpft). Eine Ausnahme bildet diesbezüglich lediglich Dumbos bester Freund, die Zirkusmaus. Ansonsten funktioniert das Werk bloß über die Körpersprache der Figuren.
Das ist nur deswegen möglich, weil in den direkten Animationen doch die Liebe zum Detail zum Vorschein kommt, die den groben Hintergründen fehlt. Der Umgang mit flüssigen oder schwindenden Elementen (Wasser, Buttercreme, Schaum, Wolken) erweist sich einmal mehr als die Königskategorie der Disney-Animation, da in diesem Hause kaum ein Element lebhafter gestaltet wird. Gleichzeitig werden die Gesichter - speziell Dumbos Gesicht - von den Animatoren oft derart gut getroffen, dass die kolportierte Emotion kaum mehr eine Simulation zu sein scheint. Man könnte daran glauben, dass diese Wesen tatsächlich leben und nicht nur das: dass sie fühlen.
Gleichwohl in animationstechnischer als auch dramaturgischer Sicht besetzt die “Pink Elephant”-Szene eine besondere Ausnahmestellung. Nachdem Dumbo aus Versehen aus einem mit Alkohol vermischten Wasserbottich trinkt, um seinen Schluckauf loszuwerden, lassen sich die Zeichner zur ultimativen künstlerischen Freiheit hinreißen: der Gestaltung einer surrealistischen Halluzinationsszene. So unbestritten dies der Filmhöhepunkt in zeichnerischer Hinsicht ist, so umstritten ist seine aus dem Handlungsbogen losgelöste, ausgerechnet mittig platzierte Positionierung. Ein weiteres Mal wird eine fortschreitende Handlung, und eine solche ist eigentlich sowieso immer nur sporadisch zu erkennen, unterbrochen.
Doch wiederum mit einfachem Zusammenspiel von Farben und Formen gelingt es ausgerechnet hier, den Gegenstand der Erzählung, besser: seine Essenz so greifbar zu machen wie zu keinem anderen Moment. Das schillernde Farbenspiel von elefantösen Monstren in den undenkbarsten Farben pendelt auf unerreichbare Weise zwischen der Verbreitung von Furcht und der Verbreitung von Freude oder Spaß. Die rosa Elefanten sind ein Instrument, um sich in die Gedanken der armen Tore zu versetzen, die es nicht besser wissen als Außenstehende noch weiter zu verstoßen anstatt sie aufzunehmen. Einerseits wird der Schrecken der “Andersartigkeit” aufgezeigt (und damit deutlich gemacht, dass die verächtlichen Reaktionen der Peiniger oft auf deren Ängste zurückgehen), andererseits aber auch die Seite, die freundlich erscheint. Ein groteskes, ambivalentes Erlebnis, das nicht zuletzt auch “Alice im Wunderland” (1951) inspiriert haben dürfte.
Dass die später auftauchenden Raben, die aufgrund der Kleidung, Sprachkultur und musikalischen Sozialisation eindeutig der schwarzen Bevölkerung zugeschrieben werden können, als eigene Minderheit sich über eine andere Minderheit lustig machen, schlägt in die gleiche Kerbe und verdeutlicht das Prinzip der Gewalt und Gegengewalt. Der oft erhobene Rassismusvorwurf ist damit kaum mehr haltbar, zielt die Darstellung doch weniger auf Afroamerikaner im Speziellen ab als vielmehr generell auf Minderheiten zur Exemplifikation eines größeren Zusammenhangs, der ganz allgemein auf das Naturell des Menschen zurückzuführen ist.
Haken wir nun noch einmal nach, worin die Größe eines Filmes zu bemessen ist, so wird “Dumbo” die These aufstellen, dass man hauptsächlich ehrlich mit sich selbst sein muss. Der vierte abendfüllende Disney-Film ist deswegen ein Meisterwerk, weil er mit Liebe zur Geschichte ungekünstelt seine eigene Unvollkommenheit zelebriert. Die größten Errungenschaften der Kunst entstammen eben nicht selten dem Zufall.