Fanny und Alexander
Originaltitel: Fanny och Alexander
Produktionsland: Deutschland / Frankreich / Schweden
Erscheinungsjahr: 1982
Regie: Ingmar Bergman
Darsteller: Kristina Adolphson, Börje Ahlstedt, Pernilla Allwin, Kristian Almgren, Carl Billquist, Axel Düberg, Allan Edwall, Siv Ericks, Ewa Fröling, Patricia Gélin, Majlis Granlund, Maria Granlund
Die Welt aus der Sicht eines Kindes ist eine andere, eine vergängliche. Sie wird sich irgendwann in das verwandeln, das ihr momentan noch Raum wie Grenzen gibt: die Erwachsenenwelt. Die Welt der Bestimmenden, Führenden, Leitenden, Befehlenden. Die Judikative, aber auch Exekutive in einem. Das Kind ist ihr Opfer, aber auch ihr Schützling; die Kinderwelt ist dem autoritären Rahmen hierarchisch untergeordnet, sie ist eine Welt in einer Welt. Möchte man sagen, der Blick der Erwachsenen auf das Leben sei der “echte”, der “vernünftige”, so blickt das Kind nur auf ein Spiel. Etwas, das “nicht wirklich” ist, das sich auf die Phantasie anregend auswirkt. Nischen des Imaginären werden gefunden, in denen sich das Kind vor der unbarmherzigen Welt verstecken kann. Dabei befinden sich die Nischen paradoxerweise innerhalb der rationalen Welt. Die Erwachsenen kennen sie ja selbst; auch wenn sie ihre eigene Kindheit vergessen haben mögen, so spielen sie im fortgeschrittenen Alter doch immer noch Theater, um das Leben da draußen zu parodieren, zu symbolisieren...kurz: zu reflektieren. Sie leiden unter ihren vielen Lebensjahren, manche von ihnen möchten schon aufgeben, da die Welt für sie im Schweden des Jahres 1910 schon immer schlechter zu werden scheint. Dann lieber sterben. Doch das Theater ist Teil ihres Lebens - der Teil, den sie fern der Bühne verleugnen, weil sie glauben, dort ernst und besonnen sein zu müssen; das verlangt schließlich die Gesellschaft.
Eine Geschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, ist im denkwürdigen Schaffen des Ingmar Bergman eine Seltenheit, auch wenn sich Andeutungen in Filmen wie “Das Schweigen” schon finden lassen und die Unschuld generell eines der wichtigen Motive des Autoren Bergman ist. Nach der Anatomie einer Ehe, nach der Identifikation von Identität und Schizophrenie, nach der Auseinandersetzung mit dem Alter, der Krankheit und gar dem Tode führt uns der Regisseur zurück auf die Basis, von der aus sich alles weitere entwickelt hat. Dass Alexander im Prolog den sich zurückziehenden Tod gerade noch erhaschen kann und dass die Metapher der “wilden Erdbeere” einmal mehr verwendet wird, verrät, dass im Grunde Bergmans gesamtes Schaffen auf “Fanny und Alexander” zurückgeführt werden kann. Denn mit dem unerschöpflich interpretierbaren Wesen des Menschen haben sich all seine Werke befasst und das Bewusstsein eines jeden Menschen vollzieht in der Kindheit seinen ersten Akt.
Das volle fünf Stunden andauernde Familienepos ist, und hier erlangt es seine außergewöhnliche Stellung, Theaterstück und TV-Film zugleich - eine Doppelbödigkeit, die von allergrößter Wichtigkeit ist, um hinter den Vorhang sehen zu können, der sich um das Genre Drama und, gräbt man etwas tiefer, das Subgenre Psychodrama wickelt. Ein Wellblech ist es letztendlich, das Aufschluss gibt über den klassizistischen Fünfakter samt Prolog und Epilog, dessen formales Äußeres einem Theaterstück nachempfunden ist, das im Fernsehen jedoch als Fünfteiler verkauft wurde - man könnte auch sagen, als Miniserie.
Das Wellblech kommt während eines Theaterstückes zum Einsatz, das innerhalb des Films gespielt wird (die Ekdahls stammen aus dem Theatermilieu). Es dient dem Stück als Soundeffekt, soll Donner wiedergeben. Ein kurzer Schnitt auf den Erzeuger der Akustik gibt unzweifelhaften Aufschluss über die künstliche Herkunft des Geräusches. Das Theater wird samt und sonders als Spiel entlarvt. Einen ähnlichen Effekt erzeugt der künstliche Regen im Theaterstück des Mittelaktes.
Im Prolog bereits deutet Bergman die Phantastik an, als er das Sichtfeld Alexanders einnimmt. Eine Statue bewegt sich, eine Sichel kratzt über den Boden. Die manifestierte Einbildung verschwindet erst, als eine Erwachsene den dekorativ ausgeschmückten Wohnsaal betritt, dessen Prunk sich auf Alexander auswirkt wie die zahlreichen Details eines phantastischen Wunderlandes.
Alexanders Fantasie und das Theaterspiel der Erwachsenen werden nun miteinander aufgewogen, in ein Gleichnis gesetzt - mit dem Unterschied, dass die Theaterspieler zu wissen glauben, dass ihre Bühne lediglich eine Meta-Welt ist. Zumindest Alexanders Mutter jedoch zweifelt später an dieser trenngenauen Abgrenzung zwischen Spiel und Wirklichkeit, als sie gegenüber ihrem späteren Mann, dem Bischof sagt, ihr Gott sei wie sie selbst, ein Gott der tausend Masken. Die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion ist nicht mehr möglich. Unter all den Masken, wo liegt das wahre Gesicht?
Und tatsächlich: Das Wellblech ertönt wieder, gemeinsam mit dem Regen und grellen Lichteffekten, die Blitze sein könnten. Diesmal jedoch außerhalb des Theaterstückes, im Hause der Zucht und Ordnung, in der geordneten Wirklichkeit, die ein strenger Bischof vor dem machtlosen Jungen ausbreitet und ihm als gegeben und unumstößlich, ja im wahrsten Sinne des Wortes als einzige Wahrheit verkauft. Mehrfach betont der “Mann Gottes”, nicht nur das Gesetz, sondern auch die Moral seien auf seiner Seite. Dabei beruft er sich auf den Ehevertrag und seine Profession - beides von Menschenhand geschaffene Arrangements und Positionen. Die fünfgliedrige, dramaturgisch ausgewogene Theaterform gibt die Staffel nun ab an das Fernsehfilmformat: Die scheinbare “Wahrheit” des Bischofs ist nichts als eine weitere Fiktion, nicht mehr oder weniger wahr als die Welt des Alexander. “Fanny und Alexander” ist lediglich ein Film, der Bischof nur eine Figur, der Donnerhall nur die Fingerfertigkeit des Tontechnikers. Die Figur des Bischofs zerbricht - die Ordnung der Welt zerfällt in eine infinite mise-en-abyme. Der Schein des einfachen, aber wertvollen Stuhls der ägyptischen Königin - eine Geschichte, die ein offenbar Kind gebliebener Verwandter (der auf der Familienfeier auch mal ein paar Kerzen mit der Kraft seines Furzes ausbläst, zum Amüsement der Kinder) den Kindern als Gutenachtgeschichte erzählt - er erhält sich deswegen selbst, weil er das Geordnete im Chaos ist, die Struktur, die sich ergibt, ohne dass es dafür eine logische Ursachenkette gäbe. Das heile Bild der Gesellschaft und die stets nach Gründen suchende Kirche verlieren den Boden unter den Füßen, als die kindliche Fähigkeit der Imagination mit Beharrlichkeit die Überhand zu gewinnen lernt.
Das Dramatische der Geschichte erklärt sich einfach durch das physikalische Gesetz zweier sich abstoßender Körper. Ein Teilchen wird aus der wohligen Umgebung gezerrt, die mit dem harmonischen Familienfest noch Bestandteil des ersten Aktes ist, und im folgenden mit einem Fremdkörper konfrontiert. Mit dem erfinderischen Alexander und dem vermeintlich moralisch integren Geistlichen prallen zwei Welten aufeinander, wie der ewige Kampf zwischen Gut und Böse. Doch was uns die gekürzte TV-Fassung in den Farben Schwarz und Weiß weismachen will, ist bei Bergman nie ganz so einfach. Die Breite der Erzählung geht wie üblich nicht in die diachronische Tiefe, der Erzählrahmen umfasst nur wenige Tage und Wochen; sie wird auf die Charakterzeichnung verwendet und jede Einzelne der unzähligen Figuren bekommt derart viele Facetten zugesprochen, dass von eindeutig guten oder bösen Menschen nicht länger die Rede sein kann. Dass der Bischof keineswegs der Mephisto ist, zerstört seine Ordnung nur noch mehr.
Erstaunlich, dass bei alledem die Kinder aus dem Titel gar nicht einmal im Mittelpunkt stehen; ja, die noch viel zu junge Fanny ist gar nicht mal mehr als eine Statistin, nur der Hinweis auf die Fortentwicklung der Familie Ekdahl in der Zukunft. Die Perspektive von Fanny und Alexander nutzt Autorenfilmer Bergman vielmehr, um auf viele unterschiedliche, dabei einer Familie angehörige erwachsene Individuen zu verweisen und sie mit einem Licht zu beleuchten, das sie selbst zu leuchten verlernt zu haben scheinen, als sie die Moderne in der Postperiode der Industriellen Revolution eingeholt hat.